I. Naturgedichte

Der blaue Baum

In diesem Baum wohne ich
seine Wurzeln meine Wurzeln
blau tupfe ich mir die Haarsträhnen
harzleuchtet das Gewand

durch einen Spalt sehe ich Spitzwegerich
Schaumkraut
das Weiße fliegt kieselwurfleicht
an der Sommerrinde lehnen
die Landvermesser
in den Feinstaubschichten verfängt sich
ein Fernwort und bleibt eine Metapher

Ach das habe ich hinter mir
dieses Klagen der nichtgeölten Tage
ein Flügelschlag genügte
um den Blick zu entzweien

Von hier wird man nicht vertrieben
in den Nischen hängen die Stammtafeln
rieseln die Sanduhrkörnchen
die Zeit wird ausgedehnt
über den Rand

Im Urwortschatz suche ich mir
einen Namen: Tajumin
er riecht nach Süßtabak
alt werde ich wie dieser Baum

Zu: Piet Mondrian, Der blaue Baum, Öl auf Karton, um 1909/10

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Im Wald

1

Wie wir da neben ihm stehen, das Flüstern der Blätter belauschen,
das Wiegen der Zweige belauschen, dieses Wiegen im Herztakt
des Ewigen, wie wir auf den hinter uns schwärmenden Pfad zurück-
schauen, zum Himmel hinaufschauen, der seine Farbtöne einsaugt,
wie wir da stehen an dieser Stelle, in dieser Stille, Minuten zählen,
uns seine Träume erzählen, ihm einen Namen geben, wie du die Hand
auf meinen Arm, seinen Arm legst, an meiner, seiner Brust horchst.
Wir wissen nicht, was wir sind, was wir suchen, hier zu dieser Stunde –
deine Wurzeln fühle ich wie die seinen, die warme Rinde fühle ich
wie deine Haut, umarme ich dich, umarme ich den Baum.
Der kühle Rauch und das Rauschen legen sich über den Wald.

2

Die Erinnerung wird einmal aus ihrer Falte jenen Tag hinauswerfen,
als wir da standen, ich sein Grün aus deinen Fingern leckte,
die frisch gespannten Blättchen aus deinem Mund küsste,
wie wir da waren stimmlos und keine Ahnung hatten, woran wir
lehnten; Kiefer, Buche, Lärche, wie dieser hellrötlich grundierte Tag
in uns eindrang, die Saiten berührte, ein Symphoniehauch.
Wir fragten uns, was wir wussten, fanden wir eine Stelle der
Erleichterung? Der Erläuterung? Wollten wir ihn beschützen?
Vor wem? Unserer Zudringlichkeit?

3

Und jetzt sind wir hier, wie damals, vor uns der Sand, das Grau.
Im Himmel, wie in einem blauangehauchten Spiegel sehen wir ihn,
den Baum, wir stehen erschöpft von der endlosen Schöpfung, er wächst
jetzt im Himmel, wir sehen uns dort, leicht, klein, mit ihm vereint

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Das Gras

Rispengras Trespe Fingerhut Habichtskraut Seidenkraut
das man auf den Lippen zerreibt zum
süßgrünen Mahl
Ein vertrauter Pfad eine ausgesessene Bank
verstreutes Werkzeug Aufgestapeltes
ein Korn steuert südwärts gegen die Maulbeeren
ein Kind leckt sich den Mund blau

und das Lachen Rauschen die blaue Meise die Elster
und Quendel Aster
Hederich Schafgarbe Wolfsmilch milchiges Licht
weiche Rinde Rosettenblätter
rötlicher Schimmer der verblassten Wolken hinter
den verträumten Ästen

und Taubnesseln Akeleien Robinien zottige Wicken
Bibernellen
dazwischen lilagelb und blaßviolett
leuchtendes Unkraut das Summen der Masten in der Ferne
und der Widerhall des stündlichen Wachsens
Leicht wie ein Haferhalm lag ich grünbeträufelt
libellengestreift
ich träumte vom Gras unvergänglichen Gras

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Ich male dir Bienen Libellen Käfer
hörst du wie sie summen brummen
Halme Stängel male ich, hörst du wie sie zittern
von den Erdstrahlen leicht getroffen
Das Feld male ich in Altgelb. Der Sommer trägt es
schwer am Rücken, lädt es aus vor deinen Füßen
dick trage ich die Farben auf
sie dringen zu den Wurzeln, vermischen sich, verwurzeln
und die Farben wechseln die Farben, wachsen
sprießen zum Leben,
das Leben ist Farben atmen, fühlen
Kein Messer kann sie wegkratzen
Wenn einmal ein Gerüst da –
Das Bild wird dir summen, rauschen
Hörst du es schon?
Das Bild, das Feld so nahe an dir, so tief mit dir
verwachsen und du noch immer klein
mit den nackten Füßen im rötlich warmen Staub

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Winter

Was soll man noch schreiben über den Schnee
der die Böschungen, Gullys verfärbt
die Zitterpappeln, die Trauerweiden tröstlich umfängt
Der Schnee ist kindisch, kitzelt, streichelt die Wangen
will verzaubern. Das Weiße ist weise, genügsam,
es ist die Unschuld, die Entschuldigung für das Düstere,

für die noch nicht erfundenen Farben, es liegt aufgeschlagen
vor dir wie das Land, das du vielleicht liebst
Das Gesicht des Mannes, der im Fieber
über das Giebeldach will, wird erhellt und wir
haben Augen nur für das himmlische Spiel

Was noch schreiben von dem windversprühten Blau
den weißen Raben
wo träumen sie sich hin oder lugen sie nur
aus einem Bilderbuch, vom Winterpeitschen verschont
den wunden Krähen beneidet
Nachsicht der Stunde, lichttiefe Töne werde ich einmengen
und was sich nicht hineinfügt übermalen
Es wird flittern wie die stille Nacht in der Krippe

An so einem flockigen feinüberzuckerten Tag
versöhnt man sich mit der Welt
Man könnte schreiben vom Schneevermächtnis:
auftauchen, auftauen und bleiben im Gedächtnis

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Noch beugt sich
die Bergspitze zum Gletscher
und nimmt ihm
das Versprechen ab
Noch glitzern Rot und Rost
grünt es am Saum des Steins

Der Wind weht
das vergessene Gedicht an
Der Nebel fühlt sich wohl
in seiner Haut
Ein friedliches Wort
erreicht den Ort

Noch landen Schmetterlinge
an den Stirnen
steht still
der weißbestickte Wald
und dein Schatten
hakt sich
bei meinem ein

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Die Taube

Die Möwe schreit und stürzt ins Gedicht, die Taube nie
Ist die Möwe zerbrechlicher verträumter als ich?
Graziös wiege ich mich in den Hüften, mit Hunderten
von Gurrvariationen beglücke ich die Welt aufs Neue.

Neugierde ist mein Naturell, in jeder Tüte
suche ich nach den Wurzeln
Gehsteig hinauf gehe ich den hohen Schuhen nach
laufe nie unter die Räder wie ein Würfel

Der graue Schwanz passt sich den Häusern an
Im Gesicht der Stadt liegt das Entzücken
Es lässt sich leicht leben auf dem Dach
Die satten Wolken werfen Schatten
und wo die Schatten sind, ist das Feste auch

Vom ersten Stock ruft mich einer herbei
Vielleicht war ich früher ein Mensch
da ich immer seine Nähe suche
bin jetzt auf dem Sims hauche ihm gegen das Kinn
er murmelt, so was tut auch unsereiner

Er schaut mich an, als wüsste ich Antwort
auf seine Fragen
als könnte man einem Vogel vertrauen
Aber Vorsicht, meine Flügel sind matt
ich schreie, stürze, das Gedicht fängt mich auf

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Es ist erlaubt
wieder über
Bäume
zu sprechen

Noch sind sie da
geschrumpft
ausgetrocknet
in ihrer
Sehnsucht
nach uns

Reden wir also
nächtelang
über
die Bäume
unsere
heißbegehrte
Beute

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Der Stein 1

Seine Festigkeit in einer Zitterhand
Nie wird er zu einem mickrigen Schwamm
Einsilbig, zum Vorteil der fremden Zunge

Mit einem weichen Kern
Käthe Kollwitz formte ihn zu ihrem Schmerz
Immer gleich seine Träume

Mit den Fingern entlang dem Stein,
eine unförmige poröse Reise
zu den Restspuren des Vergangenen

Ein Steinchen, leuchtend, wie eine Kerze
legte ich es aufs Hügelgrab vom Chagall;
eine grüne Kuh zwinkerte, zwinkerte mir zu

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Der Stein 2

Der Stein kam gestern ins Rollen. Stein von Parma?
Carnac? Und rollt über Böschung und Biaut daneben
fliegen Kiesel Mais Fahrräder gehen ihm aus dem Wege
x-Jahre im Ruhestand wo will er hin? Wem entkommen?
Dem Geschick? Ein gewöhnlicher Stein grauer Körper
ein Köder für das Ungeziefer stand am Wegrand
keinem im Wege nicht dem Ampfer dem Nebel
und rollt wir rollen ihm nach mit einer
Geschwindigkeit die den Atem die Sicht raubt
plötzlich bleibt er stehen. Andere Richtung?
Wir sind verwirrt so dicht in seiner Nähe
Wir stehen an einer Stelle zwischen Stein und Sein

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